Muffensausen vor Beerdigungen
Als es nach meiner Ausbildung „endlich losging“ mit Zeremonien, hatte ich durchaus Muffensausen vor Beerdigungen.
Nicht vor den Bestattern 😉 und auch nicht davor, mich auf den teilweise riesigen Friedhöfen zu verlaufen (ist durchaus schon passiert), nein, im Ernst:
Meine größte Befürchtung lag darin, selbst in Tränen ausbrechen zu müssen. Was würde passieren, wenn mir die Angehörigen so leidtun, dass ich selber anfangen muss zu weinen?
Wie unprofessionell.
Lillis Trauer
Und dann kam Lilli (Name geändert).
Ich hatte schon einige Beerdigungen ohne eigene Tränen hinter mich gebracht, da wurde ein junger Familienvater nach langer, schwerer Krankheit verabschiedet. Er hinterließ seine Lebensgefährtin und seine neunjährige Tochter Lilli, die sehr an ihrem Papa gehangen hat.
Lilli hatte entschieden, mit zur Trauerfeier zu kommen, und Lilli, optisch Typ Pippi Langstrumpf, saß in der dritten Reihe und hörte mir zu.
Damit meine ich nicht, dass sie weinend dasaß und in meine Richtung blickte, nein, sie sah mich stumm an und lauschte jedem Wort, das ich sagte.
Und das rührte mich, Mutter einer damals Zehnjährigen, so sehr, dass es mich nun doch überkam. Mir liefen die Tränen, ich ließ die Rede kurz pausieren, sah ihr direkt in die Augen und sagte nur „Es tut mir so leid.“
Manchmal hilft kein „wird schon alles gut“, „seien wir dankbar, dass wir ihn gekannt haben“ oder „er ist jetzt an einem besseren Ort“. Manchmal hilft das Gefühl, dass man nicht allein ist. Dass man zusammen trauert. Dass man gemeinsam die Situation scheiße findet. Und manchmal hilft nicht mal das.
Doch Lilli nickte.
Und dann weinte Lilli.
So laut und jammervoll, wie ich noch nie ein Kind habe weinen hören. Und als ihr Opa sie fragte, ob sie rausgehen wolle, nickte sie, und er nahm sie bei der Hand und ging mit ihr vor die Tür.
Ich fing mich wieder und hielt meine Rede zuende.
Lilli hat uns gezeigt, wie man mit Kummer umgeht.
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- Sie konnte ihre Bedürfnisse äußern: zur Beerdigung gehen zu wollen und die Zeremonie zu verlassen, als ihr alles zu viel wurde
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- Sie hat ihre Gefühle über gesellschaftliche Konventionen gestellt und ihren Schmerz hinausgeweint
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- Sie hat eine Familie, die ihre Bedürfnisse gesehen und ernstgenommen hat
Das ist so wichtig.
Was wir von Lilli lernen können
Die meisten von uns haben Angst vor dem Tod, vor Trauer, vor Leid. Deshalb reagieren wir manchmal scheinbar zu hart, weil wir anders nicht damit umzugehen wissen:
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- Wir lassen unsere Kinder bei Beerdigungen zuhause, weil wir meinen, das sei das Beste für sie, auch wenn sie etwas anderes wollen.
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- Wir halten ihr Weinen, ihre Tränen nicht aus und meinen, sie ständig ablenken zu müssen, statt ihnen das Gefühl zu geben, dass Trauer völlig okay (und heilsam) ist
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- Auch zu erwachsenen Trauernden sagen wir manchmal unsensible Dinge wie „du musst mal rauskommen aus deinem Loch“ „das Leben geht weiter“ oder „ein Jahr Trauer muss aber auch mal genug sein“.
Dabei ist das Zulassen so wichtig: Zuzulassen, dass jeder solange und so intensiv trauern darf, wie er es braucht. Manchen tut Ablenkung gut, das Verkriechen in Arbeit. Die Einen wollen allein sein, die Anderen reden.
Und selbst, wenn die trauernde Person nicht weiß, was sie braucht: Seien wir alle wie Lillis Opa und fragen: Was möchtest du gerade? Ich bin da.
Ich glaube, Lilli nickt (und meine Tränen fand übrigens niemand schlimm).
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[…] Aber manchmal funktioniert das nicht. Manchmal ist die Trauer zu groß, das Unverständnis für einen zu frühen oder zu schrecklichen Tod zu heftig, und ich leide zwar als Rednerin nicht mit, weil ich die Familie nicht kenne, aber das Mitgefühl kann auch mich lähmen, siehe mein Artikel https://www.freieredner.com/was-wir-von-trauernden-kindern-lernen-koennen […]